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Reisebericht zu Andalusien→Sevilla→Stadtviertel Plaza Mayor Espacio Parasol

Umstrittene Sensation des Städtebaus: Der Espacio Parasol auf Sevillas Plaza Mayor

Aussicht über der Plaza Mayor: auf dem Espacio Parasol

In meinen Augen eine städtebauliche Sensation, für andere eine andalusische Kultursünde größten Ausmasses. Auf mich wirkt die pilzähnliche Konstruktion aus Stahl und Holzplatten inmitten gewachsener, historischer Altbaustrukturen äußerst spannend. Die einem Forum ähnelnde Grundkonzeption der Anlage erinnert mich an das bei seiner Erbauung gleichermassen umstrittene Centre Pompidou in Paris. Ganz außergewöhnlich ist aber der Blick vom Dach dieser Konstruktion über Sevilla und seine Umgebung, sobald man den Aufstieg mal gefunden hat.

Vollkommen unvorbereitet stolpere ich mehr über als auf diesen Platz. Nach dem Besuch der nördlichsten Viertel der Altstadt hatte ich mich auf der Plaza Ponce de Leon etwas auf den Parkbänken ausgeruht und versucht, an diesem Busverkehrsknotenpunkt etwas mehr über die Struktur des hiesigen Nahverkehrssystems herauszubekommen. An dem Palast der Gräfin Lebrija vorbei wollte ich mich in Richtung der zentralen Einkaufsmeile Calle Sierpes wieder in die Innenstadt vorarbeiten.

Auf der Suche nach dem Aufstieg: Leben in den Wurzeln des Forums unter dem Parasol

Über die breite Calle Imagen gelange ich dorthin, vorbei an weiteren sonntäglichen Open-Air-Diskussionsforen. Nach den Karten meines veralteten Reiseführers soll ich mich am jetzt kommenden Rathausplatz, der Plaza Mayor, eher links halten. Die nichtssagenden Betonklötze um mich herum geben aber plötzlich einen ausgesprochen seltsamen Blick frei, weniger auf den erwarteten Platz, sondern mehr auf eine Gesamtkonstruktion. Eine Baumlandschaft aus Stahl- und Holzkonstruktionen überragt schattig das sich öffnende Karrée, unter breiten Treppen verbirgt sich offenbar eine Landschaft von Ladenlokalen.

Ich bin ziemlich platt und lasse das Bild erst einmal auf mich wirken. Jetzt erst dämmert mir ein Nachrichtenblock des deutschen Fernsehens in jüngerer Vergangenheit über ein neues Bauprojekt in Sevilla, das eine ziemlich umstrittene und sehr moderne Platzneugestaltung als erhofftes kulturelles Zentrum vorstellen sollte. Der Grund, warum dieser Umstand Eingang in unsere Hauptnachrichten gefunden hatte lag in dem Umstand, dass ein deutscher Architekt für dieses Projekt verantwortlich zeichnet.

Ich bin einigermaßen beeindruckt und setze mich erst einmal auf eine der Steinbänke an den Wurzeln der künstlichen Bäume, um mir einen Überblick zu verschaffen. Zuletzt habe ich einen derartigen Eingriff in urtümlich gewachsene Bausubstanzen in Paris gesehen, als mitten im altehrwürdigen Marais das Centre Pompidou erschaffen wurde, damals begleitet ebenfalls von wütenden Protesten. Auch hier ist natürlich ein Fremdkörper erschaffen worden, und ich habe keine Ahnung davon, wie es hier noch vor fünf Jahren ausgesehen hat.

Aber was ich mit eigenen Augen sehen kann, hat Klasse. Aus mehreren Trägern erhebt sich eine baumartige Konstruktion, die in ihren Wipfeln durch viele, kleine Holzverstrebungen sehr filigran den Eindruck eines Blätterdachs nachempfindet. Auf der anderen Straßenseite gegenüber führen Rolltreppen und Stufen zu einer Art Forum, wo man sich durchaus die Abhaltung von Stammesritualen vorstellen kann. In den Tiefen darunter sind verschiedene Ladenfronten erkennbar, eine ausgeschnittene Freifläche bietet Platz für ein Café.

Insbesondere befindet sich auch eine Markthalle darunter, begleitet von entsprechenden Flohmarktständen folkloristischer Natur in den Zugangswegen. Leider wird es mir aber nicht gelingen, diese in Betrieb zu erleben. Was mir von meinem stillen Beobachtungsplatz aber auffällt ist, dass sich auf dem First dieser hölzernen "Blätterkonstruktion" Menschen aufhalten. Das will ich mir natürlich nicht entgehen lassen.

Einzigartige Aussichtsplattform über Sevilla ohne das Gewühle der Giralda: Espacio Parasol auf der Plaza Mayor

Ich erkunde also dieses Forum, um den Aufgang zu finden. Forum ist wohl der falsche Ausdruck, weil im Gegensatz zu den Straßen rundherum keine Einheimischen zu finden sind, die hier ihrem Mut oder Unmut Luft machen wollen. Außer mir sind hauptsächlich Touristen anzutreffen, die wie ich die Baumwurzeln nach einer Zugangsmöglichkeit für die oberen Etagen abklopfen. Ein wohl holländisches Ehepaar in meiner Umgebung hat es mir angetan, weil sie ihn ganz offenbar immer wieder antreibt, ob er denn zu blöde sei, die richtige Treppe zu finden.

Also schlendere ich betont desinteressiert über die Plattform, obwohl es mich auch ziemlich abnervt, an jedem Baumstumpf immer nur verschlossene Stahltüren mit Notausgangsschildern zu finden. Die hypermodernen Anzeigetafeln wie in Kaufhäusern, die mir erklären sollen, auf welchem Level ich mich befinde und was wo ist, studiere ich nur heimlich und sie helfen mir ebenso wenig weiter wie der Konkurrenz. Andererseits habe auch ich die Menschen oben auf dem Dach real gesehen und das waren Touristen wie ich und keine Bauarbeiter.

Ziemlich frustriert stapfe ich die Treppen am anderen Ende des Forums herunter. Kleine Cafés am Rand des Platzes wirken sympathisch, aber angesichts des Monstrums in der Mitte irgendwie deplatziert. Schließlich gibt es jetzt ja boulevardmäßig nichts mehr zu sehen. Den kleinen Abgang zum Museum für irgendwelche Ausgrabungen nehme ich noch mit, weil ich ja sowieso wieder zurück zur Hauptstraße muss. Hinter Glaskästen finden sich in diesem Tiefgeschoß Ruinen von Fundamenten und eine bebilderte Ausstellung, was ich mir darunter vorstellen könnte. Aber in der Mitte dieses Forum Sevillanum ein Schalter, der gegen mäßige Gebühr von 1,30€ den Aufzug nach oben anbietet. Bingo!

Die Schlange davor ist sehr überschaubar, die engagierte Dame am Ticketstand sehr eloquent und vielsprachig. Nachdem ich nur nach oben will, bin ich dankbar, genügend schweigsam sein zu können, um nur den Ticketpreis zu zahlen. All nötigen Erklärungen habe ich bereits während der kurzen Wartezeit auf Englisch, französisch und deutsch entgegengenommen.

Im Lift à la Raumschiff Orion über die Dächer Sevillas

Ein futuristischer Lift, der direkt meiner Jugendserie "Raumschiff Orion" entsprungen scheint, bringt mich nach oben. Knapp über den Dächern von Sevilla trete ich ins Freie, ungefähr auf derselben Höhe wie einige Tage zuvor nach mühsamem Erklimmen der Giralda in der Kathedrale von Sevilla. Nur dass ich hier bequem Fahrrad fahren könnte, ohne irgendjemanden zu stören, während man sich auf der Giralda um die freien Aussichtsplätze prügeln musste.

Das wird sich vermutlich im Lauf der Jahre ändern, ich jedenfalls genieße eine atemberaubende, völlig freie und ungestörte Aussicht über Sevilla und seine Umgebung. Aber auch das Gefühl, hier sozusagen in der Baumkrone über der Plaza Mayor spazieren zu gehen, gibt einen besonderen Kick für sich. Ich gebe zu, wäre ich Besitzer einer der Balkone und Dachterrassen auf Sprungweite unter mir, wo früher wohl der ungestörte Gipfel Sevillas zu genießen war, wäre ich sicherlich weniger erfreut. Aber für mich kommt dieser Gang schon einem Skywalk über Sevilla ziemlich nahe.

Für mich persönlich war das ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Mir kommt der ganze Platz vor wie ein gigantischer, zu Stein und Holz gewordener, sevillaner Patio in Form eines Palmengartens inmitten des ohnehin schon zur Betonwüste verkommenen Nordrands der Innenstadt. Vielleicht der letzte Versuch, noch neue architektonische Akzente zu setzen, wo der Erhalt von Altbausubstanz bereits offensichtlich verloren hatte. Hier wird die Tradition der Plaza Espana fortgesetzt und wie in Barcelona ein in Geschichte eingebettetes Spektrum an Baukunst über alle Jahrtausende geschaffen. Mir persönlich gefällt das, nicht nur wegen der Aussicht. Allerdings muss ich nicht auf den Balkonen wohnen, die jetzt jeder einsehen kann und weiß auch nicht, wie der Platz zuvor ausgesehen hat.

Was ich gesehen habe, war der Guadalquivir und die Maestranza. Dieser Bereich fehlt mir noch für ein einigermaßen abgerundetes Bild von Sevilla außerhalb der Kathedrale. Damit will ich meinen heuigen Gewaltmarsch dann auch beenden.

Wenn Sie dem Verlauf dieser Reise folgen möchten

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Und hier der Gesamtüberblick dieser Reise mit allen Berichten


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Zuletzt aktualisiert am 27. Mai 2014

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